Gesundheitslexikon
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Neurosen

Jeder Mensch ist in sich unruhig, angetrieben und gehemmt, gebunden und frei – aber der Gesunde erträgt diese innere Unruhe, wie man so sagt, recht und schlecht. Der Mensch will viel und vielerlei; er will herrschen und anerkannt sein, er will leben, beachtet werden und sich erhalten, er will essen und schlafen, er will handeln und Ruhe und Sicherheit haben. All dieses Wollen muss täglich von neuem seine Einordnung in den Lebensraum finden, der jedem einzelnen gegeben ist. Dabei liegen die Möglichkeiten zu Konflikten sozusagen in der Luft. Die Spannungen zwischen dem, was der Mensch wünscht, und dem, was sein Lebensraum davon zu verwirklichen gestattet, sind oft recht groß. und dennoch gelingt es dem Gesunden immer wieder, solche möglichen Konflikte zu »erledigen«, das heißt, sein *Wünschen und Wollen mit den vorhandenen Gegebenheiten in Einklang zu bringen. Es gibt aber Menschen, denen das nicht gelingt, bei denen die Einordnung in ihren Lebensraum zum Problem wird. Sie versuchen, die Lösung dieses Problems krampfhaft zu erzwingen, obwohl sie ihrer Eigenart entsprechend dabei versagen müssen; oder sie scheuen vor der richtigen Bewältigung eines Lebensproblems aus Angst zurück und schlagen einen Umweg ein, der dann
zum Irrweg wird, weil sich solche Probleme, vor die jeder Mensch durch das Leben gestellt wird, nur durch eine gültige Lösung erledigen, niemals aber heimlich umgehen lassen. Verständlicherweise werden solche Menschen in ihrem Innersten uneins mit sich selbst, bis die Spannungen zwischen ihrem Wünschen und der möglichen Verwirklichung zur Neurose führen. So ist die Neurose eine Krankheitserscheinung, die ihre ei gentliche Ursache in einem »unerledigten Lebenskonflikt« hat. Zu ihrer Entstehung ist aber noch mehr notwendig als nur ein unerledigter Konflikt. Man weiß: Der eine führt ein Leben, das wirklich dazu angetan ist, ihm Konflikte zu bescheren, und er bekommt dennoch keine Neurose, sondern schlägt sich rechtschaffen mit den Konflikten herum und bleibt gesund; ein anderer hat vielleicht weit geringere Schwierigkeiten im Beruf, in der Familie oder in der Liebe, erkrankt aber an einer Neurose – des Herzens oder des Magens oder des Darms usw. Demnach gehört zum Entstehen einer Neurose außer der äußeren Konfliktsituation noch eine innere Bereitschaft des einzelnen Menschen, eine Bereitschaft, die in seiner Konstitution (in seinen ererbten Kräften und Möglichkeiten) begründet ist. Es treten dann bei ihm als Allgemeinsymptome einer neurotischen Störung Arbeitsunfähigkeit, Müdigkeit, Unlust, Verstimmung, Schlaflosigkeit usw. auf. Die »speziellen« Symptome beim einzelnen Kranken hängen jeweils von dem Organ ab, das sozusagen das Opfer der Neurose wird. Sie wählt dazu das bei dem Betroffenen schwächste Organ. So erkrankt ein Mensch an einer Herzneurose, ein anderer an einer Magenneurose, ein dritter an einer Neurose der Blutgefäße, die sich z. B. durch häufige starke Kopfschmerzen äußert, ein vierter an einer Muskelneurose, die zum krankhaften Zittern, manchmal sogar zum richtigen Schütteln oder – umgekehrt – zu einer lähmungsartigen Schlaffheit führt, usw. Allen diesen »Organneurosen« liegen stets die gleichen Ursachen zugrunde: die in der Konstitution begründete Neigung zur neurotischen Reaktion und der hinzukommende auslösende Faktor, die mißglückte Einordnung in den gegebenen Lebensraum. Neben den »Allgemeinsymptomen« einer neurotischen Störung und den »Organneurosen« muss noch ein weiteres Erschei nungsbild der Neurose erwähnt werden, das man etwa als »Verhaltensneurosen« bezeichnen könnte. Damit sind z. B. die Angstneurosen gemeint, die Zwangsneurosen und die Beschäftigungsneurosen. Zu den Angstneurosen gehört z. B. die Platzangst, zu den Beschäftigungsneurosen B. der Schreibkrampf, zu den Zwangsneurosne B. die Kleptomanie. Zur Behandlung jeder dieser Neurosen wird der Arzt in körperlicher Beziehung versuchen, durch sinnvolle Verteilung von Schonung und Übung die Persönlichkeit des Leidenden zu kräftigen (denn der an einer Neurose Erkrankte leidet wirklich, und es wäre falsch, ihn etwa für einen Simulanten zu halten). In diesem Zusammenhang kommt auch einem Wechsel des Milieus, einem Klimawechsel, einem Wechsel der Ernährungsweise und einem Wechsel der bisher gewohnten Tageseinteilung (Diätvorschriften, körperliche Übungen, Regulierung der Schlafzeit usw.) eine besondere Bedeutung zu. In seelischer Beziehung kommen jene Maßnahmen in Frage, die unter Psychotherapie näher geschildert sind. In jedem Fall aber – das sei noch besonders betont– wird es notwendig sein, die Behandlung auf beide eben erwähnten Bereiche zu erstrecken, das heißt, sowohl psychotherapeutische als auch körperlich wirkende Maßnahmen zur Anwendung zu bringen, um einen Kranken von seiner Neurose wirklich zu heilen.

 

 

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