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Kindererziehung

Von Fröbel stammt das schöne Wort: »Erziehung ist Beispiel und sonst nichts als Liebe.« Es entspricht in seiner Grundhaltung sicher dem, was die meisten Eltern meinen und wonach sie auch handeln wollen. Dennoch zeigt die Erfahrung, dass die Erziehung eines Kindes manchmal auch beim besten Willen und vielen guten Vorsätzen der Eltern in ihrem Erfolg zu wünschen übrig lässt. – Viele Schwierigkeiten würden sich wohl vermeiden oder mindern lassen, wenn die Eltern nicht nur daran denken würden, was sie bei ihrem Kind erreichen möchten, sondern auch daran, was bei einem Kind in einem bestimmten Lebensalter überhaupt erreicht werden kann. Dazu hier das Beispiel aus der Erziehung des Säuglings zur Reinlichkeit. Die strengsten Erziehungsmaßnahmen können nicht erreichen, dass ein Kind bereits im ersten Lebensjahr regelmäßig ins Töpfchen macht und in den Zwischenzeiten sauber bleibt, denn die Nervenbahnen für das willkürliche Funktionieren von Blase
und Mastdarm sind noch gar nicht genügend entwickelt. Man muss also Geduld haben, bis das Kind sich körperlich – und Gleiches gilt für die geistigen und charakterlichen Möglichkeiten – jeweils so weit entwickelt hat, dass es das auch zu leisten vermag, was die Erziehungsmaßnahmen von ihm fordern. Hier noch ein paar Einzelhinweise, die bei der Kindererziehung zu berücksichtigen sind: Das Kind hat, wie auch das junge Tier, einen ausgesprochenen Bewegungsdrang. Man soll ihn als normalen Trieb, der die notwendigen Anreize zur körperlichen Entwicklung gibt, werten, bevor man unentwegt zum Stillsitzen usw. mahnt. Bei der Erziehung zum Gehorsam ist zu bedenken, dass es zwei Arten des Gehorsams gibt: den Verbotsgehorsam und den Erfolgsgehorsam. Den Gehorsam, etwas Verbotenes zu unterlassen, kann das normale Kind bis spätestens zum Ende des zweiten Lebensjahres leisten. und als Erziehungsmittel zu diesem Gehorsam kann auch z. B. der Klaps auf die Hand angewandt werden. Der Gehorsam, etwas Gefordertes zu tun, also der Erfolgsgehorsam, setzt eine etwas weitere Entwicklungsstufe voraus, denn für das Kind bedeutet die Leistung dieses Gehorsams meist, dass es zunächst etwas, das es gerade selbst tun wollte, lässt, um dann das zu tun, was von ihm verlangt wird. Das prompte Funktionieren des Erfolgsgehorsams kann man meist erst mit Ende des vierten Lebensjahres erwarten. und das Erziehungsmittel zu diesem Gehorsam ist nicht der Klaps, also nicht die Strafe, sondern die kleine Belohnung, wenn er geleistet wurde. Diese Belohnung braucht nicht immer gleich ein Stück Schokolade zu sein; es genügt ein freundlicher Blick oder ein anerkennendes Wort der Eltern. Ein normales Kind hat ein großes Mitteilungsbedürfnis ( und deswegen soll man ihm zuhören, wenn es etwas aus seiner kleinen Welt erzählen möchte), und es hat einen großen Wissensdurst ( und deshalb soll man über seine »ewige Fragerei« nicht ungehalten sein). und ein normales Kind hat eine rege Phantasie, ist aber zunächst noch wenig fähig, zu den Bildern der eigenen Phantasie die notwendige geistige Distanz zu halten. So nimmt es oft diese Bilder für Bilder der Wirklichkeit – und der Erwachsene meint dann, das Kind beim Lügen ertappt zu haben. Straft er deshalb gar das noch junge Kind (bis etwa zum 6. Lebensjahr), so macht er vielleicht einen groben Erziehungsfehler, denn das Kind kann noch nicht recht verstehen, warum es gestraft wurde, und so fühlt es sich aus jenem Zustand hinausgestoßen, den es sich am allermeisten wünscht: das verständnisvolle innere Geborgensein bei den Eltern. Eine gute Erziehung setzt ein ruhiges Gleichmaß aller einzelnen Erziehungsmaßnahmen voraus. Ein Kind braucht nicht viel äußere Abwechslung, um sich wohl zu fühlen und sich ges und zu entwickeln, und ein Zuviel an äußerer Abwechslung kann eher schädlich als fördernd sein. Worauf es in allererster Linie ankommt, ist, wie gesagt, das ruhige Gleichmaß der ganzen Erziehungssituation. – Nervöse Kinder, hat ein Erfahrener gesagt, gibt es nicht; es gibt höchstens Kinder nervöser Eltern. Der Hinweis »Ein Zuviel an äußerer Abwechslung kann eher schädlich als fördernd sein» gilt für die ganze Zeit der Kindheit. Er sollte z. B. auch wirklich bedacht sein, bevor es zur Gewohnheit geworden ist, jeden Abend gemeinsam mit den Kindern in schweigender Andacht vor dem Fernsehapparat zu sitzen. Es ist verschiedentlich über mögliche Schäden durch das Fernsehen (vermeintliche Strahlenwirkung; Schäden für die Augen, für die Körperhaltung usw.) diskutiert worden. Wenn der Apparat oft genug nicht eingeschaltet wird, werden solche gelegentlich vermuteten Schäden sowieso vermieden und außerdem der wohl viel wichtigere Schaden, der dadurch möglich ist, dass es abends keine stillen Stunden mehr gibt. Sie aber sind die Voraussetzung dafür, dass sich aus dem eigenen Innern Geistiges und Seelisches entfalten kann, dass außerdem aber auch für das Kind im unhastigen Gespräch am Familientisch das bergende Gefühl der inneren Gemeinschaft mit den Eltern entsteht. Wo statt des Familienkreises ein Halbkreis von Familienangehörigen vor dem Fernsehapparat sitzt, ist jeder sehr oft im Grunde genommen mit sich sehr allein! – Hier und da wird es als wichtiger Hinweis für die Kindererziehung erwähnt, den Kindern nur manchmal das Fernsehen zu erlauben bzw. es ihnen soundso oft zu verbieten. Dieses Erlauben und Verbieten kommt einem jedoch für eine so neue, früher nie in ähnlicher Weise gekannte Situation beinahe ein Bisschen unmodern vor – der Fernsehapparat nämlich steht wie eine neue Macht, die die Aufmerksamkeit und das Denken und Fühlen unweigerlich fordert, mitten in der Familie. Man muss sich schon mit den Kindern zusammen zu gemeinsamem Verhalten entschließen, wenn etwas wirklich Fruchtbares für die Erziehung dabei herauskommen soll. Wer ständig strafen muss, zeigt damit nur, dass er kein guter Erzieher ist. –Schlimmer als eine Strafe durch körperlichen Schmerz empfindet das Kind aber eine Bestrafung durch den kühlen Entzug der Liebe. (»Geh’ weg; ich mag dich nicht mehr!«) Durch ihn wird es viel mehr aus dem Gefühl des Geborgenseins hinausgestoßen, als wenn es sich nach einer körperlichen Bestrafung an Mutters Schürze die Tränen abwischen darf. – und auch das Verwöhnen muss gekonnt sein: Niemals verwöhnt werden, ist traurig; ständig verwöhnt werden, untergräbt die seelische Gesundheit des Heranwachsenden. Er kann in die Gefahr kommen, später vom ersten kleinen Schicksalsschlag umgeworfen zu werden. Der Arzt hört häufig von besorgten Eltern etwa folgende Äußerung: »Natürlich verlange ich von meinem Jungen – er ist erst 12 Jahre alt – nichts, was er seinem Alter nach noch nicht leisten kann. Wenn ich aber an meine Jugend denke und wie ich in diesem Alter war ...« In dieser Überlegung steckt ein wesentlicher Fehler: Die Erfahrung der Ärzte und der Lehrer zeigt ganz eindeutig, dass man zwischen den geistigen und charakterlichen Fähigkeiten eines heute Zwölfjährigen und eines Zwölfjährigen vor dem letzten Krieg nicht ohne weiteres ein Gleichheitszeichen setzen darf. Etwa ein Viertel aller heutigen Kinder (das gilt zumindest für die Kinder in den Städten) erweist sich in mancher Beziehung als weniger leistungsfähig als gleichaltrige Kinder früherer Jahre. Das heißt: ihr Entwicklungsalter stimmt nicht mit ihrem Lebensalter überein. Diese Tatsache erklärt sicher manches, was vielen Eltern heutzutage Sorgen macht: die mangelnde Leistung des Kindes in der Schule (weil es sich nicht genügend konzentriert und weil es – obwohl offenbar gut begabt –in seinen Leistungen sehr unterschiedlich ist), die Schwierigkeiten zu Hause (weil es oft die kleinsten Aufträge sogleich wieder vergißt, weil es manchmal besonders unbeherrscht erscheint usw.) und viele Erziehungssorgen mehr. (Unter Akzeleration ist zu diesem Thema für die Jugendlichen in den Entwicklungsjahren Näheres gesagt.) Man darf in solchen Fällen nicht den Fehler machen, mit Gewalt erzwingen zu wollen, was das Kind seinem Entwicklungsalter nach (das eben vorübergehend mit seinem Lebensalter nicht übereinstimmt) nicht leisten kann. Man muss vielmehr Geduld haben, bis in den folgenden Jahren dieser Entwicklungsrückstand wieder nachgeholt ist. Das geschieht im Allgemeinen ohne weiteres Zutun, denn es handelt sich, wohlgemerkt, lediglich uni ein zeitweiliges Nachhinken der Entwicklung hinter dem Lebensalter und nicht etwa um einen bleibenden Defekt. Bei erheblicheren Entwicklungshemmungen dieser Art kann der Arzt überdies durch Verordnen bestimmter Mittel die Oberwindung des Entwicklungsstopps beschleunigen helfen. Ober einige spezielle Themen, die bei der Kindererziehung Sorgen machen können, ist gesondert gesprochen. Sie sind in der Übersichtstabelle zum Thema »Kind usw.« (Sp. 505 und 506) mit aufgeführt.

 

 

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